Rahel

Meine Würde in den Dreck gezogen

An jenem Abend als ich draussen spielen gegangen war, schien der Vollmond. Seither hasste ich Vollmondnächte. Ich sehe mich noch heute, wie ich wieder ins Haus zurückkam. Ich verriegelte die Toilettentür hinter mir, was ich sonst nie tat und betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Ich war geschockt. Ich konnte mir nicht mehr in die Augen schauen. Stattdessen betrachtete ich meine Hände und fragte mich: „Rahel, was hast du mit diesen Händen getan? … Was hat er mit dir getan?“ Ich wusch mir mehrmals die Hände, doch der Eckel und die Scham über das, was gerade eben geschehen war, konnte ich nicht abwischen. Warum hatte ich es nicht geschafft, mich vor einem erneuten sexuellen Missbrauch zu schützen? War ich mit meinen knapp 12 Jahren nun nicht alt genug dazu? Warum liess ich zu, dass auch dieser junge Mann mich ausnutzte und meine Würde in den Dreck zog? Ein Blick in meine ausdruckslosen Augen sagte mir alles: Ich hatte die Achtung vor mir selbst verloren und mit ihr auch ein Grossteil meines Selbstbewusstseins.

Es gibt keinen Gott!

Meine Welt war zerbrochen. Nicht nur, dass ich allgemein Männern noch mehr misstraute. Dieses Mal war es weit mehr: Meine Sicht auf Menschen, die sich Christen nannten, die in die Kirche gingen und vom lieben Gott erzählten, veränderte sich. Was wenn diese Kirchenleute alle so wie dieser junge Mann waren? Vordergründig fromm und nett, hinterrücks egoistisch und unberechenbar? Was wäre dann mit Gott? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein liebender Gott hinter so einem verlogenen Pack von „Christen“ stehen konnte.

Da mir Gott auf meine Gebete keine Antworten zu geben schien, kam ich zum Schluss, dass es überhaupt keinen Gott gibt. Diese Leute aus der Kirche hatten sich wohl ein wohlklingendes Märchen ausgedacht und kaschierten mit ihrem frommen Getue nur ihre Hinterhältigkeit. Deshalb wandte ich mich innerlich von der Kirche ab. Auch sonst zog ich mich von den Menschen und Gott zurück. Ich baute eine unsichtbare Schutzmauer um mich und meine Gefühlswelt auf. Ich schwor mir: „Nie wieder lasse ich mich von einem Mann ausnutzen!“

Gegen aussen wurde ich eine angepasste, schüchterne aber fröhliche junge Frau. Gott liess ich eine kleine Hintertür offen: Falls er existierte, dann sollte er sich mir zeigen.

(K)ein Zufall!?

Obwohl ich mein mangelndes Selbstbewusstsein durch Fleiss und Ehrgeiz versuchte zu übertünchen, kam es doch immer wieder zum Vorschein. In der Berufswahl traute ich mir wenig zu und es fiel mir äusserst schwer eine Entscheidung zu fällen.

In dieser Zeit, ich machte gerade ein Zwischenjahr im französisch sprachigen Teil der Schweiz, schaute ich in meinem dortigen Zimmer durchs Dachfenster in den Himmel. Ich forderte Gott heraus: „Wenn es dich gibt, dann musst du mir jetzt eine Antwort geben. Tust du dies nicht, dann werde ich nie mehr an dich glauben!“

Daraufhin geschah nichts. Der Himmel zeigte sich stahlblau und verschlossen. Es war mir, als schien mir die Sonne spöttisch aufs Gesicht. Einsamkeit und eine grosse Leere machten sich in mir breit – doch alles Weinen half nichts. Ich dachte, nun würde mir nichts anderes bleiben, als mein Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Doch als ich mir die Tränen abwischte, sah ich auf einmal etwas an der Holzwand eingeritzt. Ich ging näher hin und las: JEUSU LIEBT DICH. Diese deutsche (!) Inschrift hatte ich, seit ich vor acht Monaten in das Zimmer eingezogen war, nie bemerkt. Und nun, als ich Gott herausforderte mir zu helfen, sah ich sie auf einmal… Ich liess mich aufs Bett fallen. Meine Gedanken rasten durcheinander. Das konnte kein Zufall sein! Das war Gott. Das war seine persönliche Antwort für mich! Ein Funken Hoffnung keimte in mir auf. Gott hatte mich nicht vergessen!

Schritt für Schritt Selbstwert zurückerlangen

Seit diesem Erlebnis mit Gott sind mehr als fünfzehn Jahre vergangen. Wenn ich zurück schaue, sehe ich, wie Gott mich auf einem Weg der inneren Heilung begleitet hat. Was in mir durch den sexuellen Missbrauch zerbrochen wurde, hat Gott nicht von einem Tag auf den anderen wiederhergestellt. Aber er half mir Schritt für Schritt.

Mit der Unterstützung von Fachpersonen und Freunden lernte ich zu realisieren, was mir geschehen ist und weshalb der Missbrauch so grosse Auswirkungen auf mich als Person hatte. Ich erlebte innere Befreiung, als ich allen Personen, welche dazu beigetragen hatten, dass ich den Missbrauch erleben musste, vergab. Einschliesslich mir selbst.

In gleichem Masse wie ich innere Heilung erlebte, nahm auch mein Selbstwert wieder zu. Heute tue ich Dinge, die ich mir früher nie zugetraut hätte: Ich kann ohne Scheu vor Publikum sprechen, ich lasse Menschen in meinem Umfeld wieder vermehrt an meinen innersten Gedanken und Gefühlen teilhaben, ich gehe mit Überzeugung in eine Kirche und gestalte sie aktiv mit. Die Mauer, welche ich aus Angst um mich aufgebaut hatte, ist  gefallen. Ich brauche sie nicht mehr. Ich habe gelernt, wie ich mich schützen kann. Ausserdem weiss ich: Gott schützt mich.

Geliebt und geachtet

Heute muss und will ich mich nicht mehr hinter einer Maske verstecken. Ich kann immer mehr mich selbst sein. Natürlich gelingt mir dies nicht immer. Aber ich weiss, dass ich auf diesem Weg Gott als meinen Begleiter habe. Heute fühle ich mich von Gott geliebt. Ich möchte immer mehr nach dem Grundsatz leben, dass ich meinen Wert von Gott bestimmen lasse und nicht von Menschen. Denn im Vergleich zu den Menschen, begegnet Gott mir immer mit Achtung und Wertschätzung.

Das ist meine Geschichte. Welche Geschichte hast du? Vielleicht wurdest du wie ich von Menschen, welche in die Kirche gehen endtäuscht oder vielleicht hast auch du sexuellen Missbrauch erlebt und fragst dich, wo Gott ist.

Wenn du dich mit mir darüber austauschen möchtest, dann schreib mir doch. Ich würde mich freuen!

— Read more —
Contact me Learn more about Jesus

Similar stories